Interview von Grégoire Seitert
„Wir dienen dem Staat, um dem Volk zu dienen“
Grégoire Seitert leitet als Amtsvorsteher und Kantonstierarzt das Amt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen des Kantons Freiburg. Er ist zudem Präsident der Vereinigung der höheren Kader und Magistratspersonen des Staates Freiburg (ACSM). Er erzählt vom bemerkenswerten Einsatz der Staatsdienste während der Corona-Krise und äussert sich zur Sanierung der Pensionskasse.
Das Amt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (LSVW) stand im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front. Warum?
Wir verfügen über umfangreiche Erfahrung mit übertragbaren Krankheiten und Tierseuchen. Dank dieses Wissens konnten wir einen grossen Beitrag zur Bewältigung dieser vollständig neuartigen Krise von noch nie dagewesenem Ausmass leisten.
Ich selbst bin Doktor der Veterinärmedizin mit Spezialisierung auf Molekularbiologie im Bereich der DNA-Extraktion. In der Armee bin ich zudem innerhalb der Territorialdivision 1 für den Teilstab Pandemie (EMPPAN) für die Romandie und den Kanton Bern zuständig. COVID fiel also voll und ganz in mein Fachgebiet.
Wie war die Reaktion Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Ereignisse?
Wir haben im Amt umgehend den Pandemieplan in Kraft gesetzt und alle Risikopersonen aufgefordert, im Homeoffice zu bleiben. Wir haben einen grossen Teil der Tätigkeiten des LSVW in den Lockdown versetzt und haben nur die Kontrolle des Trinkwassers und der Nutztiergesundheit sowie die Arbeit in den Schlachthäusern fortgesetzt.
Ich hatte einen freiwilligen Stab von 40 motivierten und hauptsächlich jungen Kadermitarbeitenden um mich – jung, weil wir uns um die älteren grosse Sorgen machten – und durfte auf die wertvolle Unterstützung der Polizeischule und deren Kader zählen. Der Stab Gesundheitshotline war dem Kantonalen Führungsstab (KFS) untergeordnet und hatte die Aufgabe, die Bevölkerung zu informieren und bei Fragen zur Epidemie zu beraten. Es galt, den Betrieb der Hotline sicherzustellen und um jeden Preis mit der Freiburger Bevölkerung in Verbindung zu bleiben und das HFR zu unterstützen.
Unser Personal hat sich vollständig engagiert und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Staatsdiensten war von Anfang bis Ende bemerkenswert. Wir brauchten niemandem zu erklären, dass wir alle am selben Strang und in dieselbe Richtung ziehen müssen.
Am 29. November stimmen die Freiburgerinnen und Freiburger über die Sanierung der Pensionskasse ab. Glauben Sie, dass die Corona-Krise diese Abstimmung beeinflusst?
Davon bin ich überzeugt. Bereits ausserhalb von Krisenzeiten liefert die Kantonsverwaltung der Bevölkerung täglich Antworten und leistet unterschiedlichste Dienste von hoher Qualität. Unsere Ämter leisten eine sehr gute Arbeit. Ich habe viel mit der Privatwirtschaft und mit Verwaltungen von anderen Kantonen und in anderen Ländern zu tun. Ich kann Ihnen versichern, dass die Arbeitsqualität der Freiburger Verwaltung ausgezeichnet ist. Wir sind immer sehr bevölkerungsnah.
Die Krise hat diese Nähe höchstens noch verstärkt. Nach dem Ausbruch der Krise habe wir alles unternommen, um den Freiburgerinnen und Freiburgern zu helfen, ohne uns je zu fragen, ob etwas noch in unseren Aufgabenbereich fällt, und das ganz unbürokratisch. Wir dienen dem Staat, um der Bevölkerung zu dienen. Während der Krise war das überdeutlich. Alle gingen neue Wege und engagierten sich vorbehaltlos. Die Krise hat unsere Verwaltung noch gestärkt!
Welche Vorteile hat der zur Abstimmung stehende Vorschlag für die Staatsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter?
Die Lösung sorgt für eine stabile Pensionskasse bis ins Jahr 2052. Es handelt sich also um eine langfristige Investition in die Qualität des Service Public. Das neue System sorgt auch für mehr Gerechtigkeit zwischen den jüngeren und älteren Beitragszahlenden. Heute finanziert die junge Generation die Renten der Älteren. Mit dem Beitragsprimat wird das nicht mehr der Fall sein. Sicher werden alle Federn lassen müssen, doch zum Glück hält sich das in Grenzen. Es ist eine gerechte, pragmatische, ausgewogene und dauerhafte Lösung, zu der alle Staatsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter einen Beitrag leisten müssen. Um zu dieser Lösung zu gelangen, haben wir im Laufe von 26 Monaten in 15 Sitzungen über 30 verschiedene Varianten geprüft. Ich glaube deshalb, dass die vorgeschlagene Variante die bestmögliche für die Zukunft unserer Renten ist und dass sie einen qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienst sicherstellt.
Die Corona-Krise hat also gemäss Ihnen den starken Zusammenhalt in den Staatsdiensten deutlich gemacht. Wie hat sich das geäussert?
Ich kann Ihnen das Beispiel der Hotline geben. Es ist schnell klar geworden, dass das HFR die Nachfrage nicht mehr allein bewältigen kann. So kamen wir auf die Idee, in den Räumlichkeiten des Amtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen eine Hotline einzurichten, weil wir wussten, dass man auf jeden Fall den Kontakt zu den Freiburgerinnen und Freiburgern halten muss. In nur fünf Tagen stellten wir die Hotline auf die Beine, denn die Zusammenarbeit mit dem HFR war von Anfang an ausgezeichnet. Unsere Kadermitarbeitenden hatten jeden Morgen um 8.30 Uhr eine Sitzung mit den Infektiologen des HFR und jeden Tag tauschten wir uns darüber aus, was wir am Vortag erlebt hatten.
Wer waren die Personen, welche die Anrufe der Freiburger Bevölkerung entgegennahmen?
Wir stellten 120 externe Mitarbeitende für die Anrufannahme ein: Pflegestudierende im dritten Jahr und Medizinstudierende im vierten Jahr. 25 Pflegefachpersonen und 5 Bereitschaftsärztinnen und -ärzte standen als Back-up im Einsatz. Die Hotline war vom 13. März bis zum 12. Juni 2020 sieben Tage die Woche von 8 bis 23 Uhr offen. Bei jedem Anruf eröffneten wir eine Patientendatei für das HFR und notierten darin alles, was besprochen wurde. So konnten wir die Leitung der gesamten ärztlich delegierten Triage vor dem HFR übernehmen. Zwischen dem 13. März und dem 12. Juni bearbeiteten wir 8700 Anrufe und 535 Hospitalisierungen und wir boten in 120 Fällen in Zusammenarbeit mit den mobilen Teams für psychosoziale Notfälle und den Psychiatrienotfällen psychologische Unterstützung.
Wir erlebten natürlich auch schreckliche Situationen. Die Hotline-Mitarbeitenden hörten viele dramatische Geschichten. Sie konnten auch psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen.
Punkto Auslastung der Hotline (wir hatten 20 Linien) war der schlimmste Tag der Freitag, der 13. März – der Tag der Lancierung der Hotline. Gleichentags wurde die Schliessung der Schulen bekanntgegeben. Eltern, Kinderkrippen, Arbeitgeber – alle riefen gleichzeitig an.
Täglich um 23 Uhr gab es einen Informationsrapport über alle hospitalisierten Personen, die Anliegen der Freiburgerinnen und Freiburger am entsprechenden Tag und die Art der Anrufenden. Das war eine Art allgemeiner Informationsaustausch. Die Informationen wurden danach den zuständigen Stäben weitergeleitet.
Ihr Amt ist auch neue Wege gegangen, um Lösungen in Bereichen zu finden, in denen es noch keine gab…
Wir gingen bis zu fünfmal täglich ans HFR, um die Situation zu begutachten, zu antizipieren, uns Gedanken über zukünftige logistische Probleme zu machen und vor allem unseren Partner, das HFR, zu unterstützen. Wir redeten jeden Sonntag stundenlang mit den Chefärztinnen und Chefärzten des Spitals, um neue Ideen für eine bessere Betreuung der Anrufenden zu suchen. Unsere Feststellungen in den ersten Tagen der Krise ermöglichten uns, einige Projekte und Baustellen in Angriff zu nehmen, was in den meisten Fällen zum Erfolg führte.
Am 2. März hatten wir in Freiburg nur sehr wenige von den Tupfern, die für Nasenabstriche und COVID-19-Tests notwendig sind. Wir gründeten eine Organisation der nicht-deutschsprachigen Gebiete für die Beschaffung von strategischem Material, z. B. Tupfern, Tests und Verbrauchsmaterial in grossen Mengen. Es gelang uns beispielsweise, uns 10’000 der begehrten Tupfer aus der Fabrik in Brescia liefern zu lassen – und das auf einem Markt, auf dem sich alle um dieses Material rissen.
Glücklicherweise verfügten die Veterinärämter in der Schweiz über viel Material für das Testen auf Rinderkrankheiten, unter anderem Sets für die Erkennung von 20 verschiedenen Krankheiten. Eine der Krankheiten, die wir bei Rindern am häufigsten testen, ist die Bovine Virusdiarrhoe, kurz BVD, dessen Erbgut wie das der Coronaviren in Form einer einzelsträngigen RNA vorliegt. Die Testgeräte sind also dieselben, man muss im Inneren nur ein paar «Legosteine» verändern (PCR-Kit) und die Linie anpassen. Da der Kanton nicht genug Testkapazitäten hatte, eröffneten wir in unseren Räumlichkeiten ein COVID-19-Testzentrum. Es wurde vom HFR und von Swissmedic zugelassen. Wir arbeiteten auch mit einer weiteren Partnereinrichtung des HFR für die Tests zusammen, mit dem SICHH.
Können Sie uns erklären, wie Sie in der Veterinärmedizin eingesetzte Testgeräte für die Humanmedizin umgerüstet haben?
Die in der Humanmedizin eingesetzten Extraktionsautomaten waren natürlich nicht mehr lieferbar. Aber man findet gleichwertige Extraktionsautomaten für die Veterinärmedizin, die viel weniger kosten. Wir kauften welche und zwei meiner Kaderleute, die selbst an Covid-19 erkrankt waren und eben erst wieder arbeiteten (siehe Kasten), bauten innerhalb von fünf Tagen ein Covid-19-Testzentrum auf und erhielten die Zulassung von Swissmedic für die Tests. Ab Woche 23 konnten wir Tests durchführen und damit die Kapazitäten im Kanton und des HFR erhöhen. Bis heute haben wir gesamthaft 3’900 Test durchgeführt und wir machen damit in grossem Umfang weiter, solange der Bedarf aufgrund der Krise vorhanden ist.
Das LSVW stellte ab Anfang März in seinem Chemielabor auch einige Tonnen Desinfektionsmittel in kleinen Flaschen gemäss dem Rezept der WHO her, um die kantonalen und kommunalen Organisationen zu beliefern. Wir hatten das Glück, 100’000 Fläschchen auf Vorrat zu haben, als alle Desinfektionsmittel suchten.
Das LSVW hat zwischen dem 13.03.20 und dem 21.04.20 auch eine kantonale Fernmedizinlösung und das Material dazu entwickelt, um es dem HFR zu übergeben.
Was haben Sie aus der Krise über die Freiburger Bevölkerung gelernt?
Vor allem – würde ich sagen – hat sie mir die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen, des Staates und auch unserer Expats bestätigt, sich gegenseitig zu helfen. Wir haben alle zusammengearbeitet. In einer solchen Krise zählt das bereichsübergreifende Denken und der Freiburger Geist!
Ich gebe Ihnen Beispiele. Wir hatten grosse Mühe, Ethanol für das Desinfektionsmittel zu beschaffen. Wir haben es, dank unseren Kontakten in Freiburg, dort geholt, wo man es findet: in den Parfümerien.
Wir konnten auch auf die unglaubliche Unterstützung von UCB Farchim zählen. Das Unternehmen schenkte dem Kanton dutzende Tonnen Desinfektionsmittel. Die Hochschule für Technik und Architektur Freiburg stellte uns vom 15. März bis zum 30. Juni 15 Mitarbeitende zur Verfügung – Chemiker*innen und Laborantinnen und Laboranten – die diese Tonnen in Gefässe von 20 Litern, 10 Litern, 5 Litern oder 500 ml für Schulen, Risikoinstitutionen und Verwaltungen abfüllten.
Wir konnten auch vom Netzwerk der Auslandfreiburger profitieren, das uns äusserst wertvolle Dienste bei der Beschaffung und Sicherung von strategischem Material und dessen Transport leistete.
Ich ziehe auch den Hut vor und sage DANKE an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stabs, unsere Externen, das HFR und alle staatlichen Stellen, die in einem so historischen Augenblick alles für das Wohl der Freiburger Bevölkerung gegeben haben.
35 von 40 Kadermitarbeitenden mit COVID-19 infiziert
Von den 40 Kadermitarbeitenden, die weiterhin in den Räumlichkeiten des Amts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen arbeiteten, während ihre Kolleginnen und Kollegen im Homeoffice waren, erkrankten 27. Acht weitere entwickelten Antikörper, ohne Symptome zu zeigen. Gesamthaft infizierten sich somit 35 von 40 mit COVID-19. «Wir waren zwischen dem 15. Und dem 26. März krank», erklärt Grégoire Seitert. Da wir 20 Stunden täglich arbeiteten und an COVID-19 erkrankt waren, ging es uns wirklich schlecht. Am 26. März verriegelten wir das Gebäude und Sicherheitsexperten kamen, um die Lüftungskanäle zu verschliessen und den Minergiebetrieb des Gebäudes einzustellen.» Nach dem 30. März hatten wir keinen Corona-Fall mehr.» Von den 27 erkrankten Personen litten vier unter schweren Symptomen. Heute sind alle zurück an der Arbeit. Die durchschnittliche Abwesenheitsdauer betrug 23 Tage. Grégoire Seitert selbst verbrachte 42 Tage in einem Hotelzimmer – einen Teil davon in Quarantäne –, um seine junge Familie keinem Risiko auszusetzen. Ein ganzes Stockwerk des Hotels war für die mit COVID-19 infizierten Kadermitarbeitenden abgeriegelt, damit sie weiter ihren vollen Einsatz für den Staat und die Bevölkerung erbringen konnten.